Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – Vorstellung
Hannah Arendt untersucht in ihrem Hauptwerk (?) Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft die neuartige Herrschaftsform des Totalitarismus als Abstraktum, als Konstrukt, wobei sie Nationalsozialismus und Stalinismus als Beispiele, als Anschauungsobjekte heranzieht. Aus dieser Perspektive unterscheiden sich beide Systeme fast nur in Bezug auf die zugrundeliegende Ideologie, die Objekte der Vernichtung und den Fortschritt der Verwirklichung der Ausbildung der totalen Herrschaft: Stalin sei hier weiter gewesen.
Grundlage eines totalitären Systems ist eine Ideologie: ein vollständig faktenresistentes Anschauungssystem, dessen Programmatik im Wege der totalen Herrschaft verwirklicht werden soll. Mit dem bisherigen Menschen geht das allerdings nicht, da sein gesunder Menschenverstand, seine inneren Vorbehalte und seine erfahrungsbedingte Skepsis verhindern, dass er voll und ganz hinter der Sache steht.
Es gilt also, den neuen Menschen zu schaffen, und dafür muss der alte sozusagen neu programmiert werden, was am besten funktioniert, wenn alles, was ihn bisher ausmachte, zunächst gelöscht wird. Zentrales Mittel hierzu ist der Terror, der gerade das Ziel hat, den inneren Vorbehalt, den Identitätskern zu zerbrechen. Seine Kernbotschaft: Du als Individuum spielst keine Rolle; wir können dafür sorgen, dass du nicht existierst, dass du nie existiert hast. Er funktioniert dadurch, dass Feinde (Juden, Konterrevolutionäre, etc.) willkürlich benannt und entfernt werden, da gerade die Willkür verhindert, dass sich in bestimmtem Liquidierungsvermeidungsverhalten das geistesgegenwäartige Individuum betätigt. Die Kultur der Denunziation zerstört die interpersonalen Beziehungen, die sonst als ein Stabilisierungsfaktor der Persönlichkeit dienen. Es geht um „Vermassung“ des Menschen; er soll im Kollektiv vollständig aufgehen, Teil einer Gesamtperson („Der Russe“) werden, wobei er selbst nur noch quasikonditioniertes Bündel von genau vorhersehbaren Reaktionen ist.
Wie kommt es zu totalitärer Herrschaft? In der modernen Gesellschaft bildet sich eine Mentalität der Zivilisationsmüdigkeit, in der die Bewegungen mit ihrer Radikalität für die Ausgestoßenen („Mob“) und für die Gelangweilten („Elite“) Sinn und Faszination liefern. Geistige Wurzeln von Komponenten des ideologischen Denkens findet Arendt im Imperialismus, dem der zweite große Teil des Buches (totale Herrschaft wird im dritten Teil behandelt) gewidmet ist.
Die Vorstellung der Möglichkeit totaler Herrschaft entsteht, sobald Beamte des Mutterlandes ein ihnen fremdes Land zu regieren gezwungen sind. Sie arbeiten daran, ihre idealistischen Vorstellungen ohne Rücksicht auf die Verhältnisse vor Ort durchzusetzen. Rassische Ideen speisen sich maßgeblich aus einer Art negativem Kulturschock: Der Kolonialherr sieht Menschen, die, wie man heute sagen würde, „mit der Natur im Einklang leben“, ihr mithin gänzlich schutzlos ausgeliefert sind, da keine stabilisierende Zivilisation gebildet wurde, und er kann sich nicht vorstellen, dass das Menschen wie er sein sollen. Auch eine entscheidende Rolle spielt, dass die Akteure des Kolonialismus häufig zu den Ausgestoßenen („Überflüssigen“) der bourgeoisen Gesellschaft gehören, die in den Kolonien plötzlich die Herren sind. Sie verbünden sich mit Kapital, das im Mutterland nicht mehr profitabel investiert werden kann.
Der Imperialismus ist einer der Sargnägel des Nationalstaates, dessen Konzeption von einer relativ homogenen Bevölkerung ausgeht, was ja offensichtlich in einem Empire nicht der Fall ist. Ferner wird das Bild gestört durch Staatenlose: (Politische) Flüchtlinge, die faktisch rechtlos sind, da sie nicht Teil der Gemeinschaft der Nationalstaatsbürger sind. Absurd erscheint, dass sie, sobald sie kriminell werden, plötzlich einem Regelungsregime (Strafrecht) unterworfen sind, das ihnen bestimmte Rechte und Pflichten gibt, sich ihre Rechtsstellung mithin durch die Straftat verbessert.
Der erste Teil des Buches zeichnet die Geschichte des Antisemitismus bzw. der Stellung der Juden in der Gesellschaft nach. Der moderne Antisemitismus ist nicht zu verwechseln mit dem klassischen Judenhass, der ein Phänomen der ständischen Gesellschaft ist. In ihr spielt der „Hofjude“ eine zentrale Rolle: Er wird als Financier von Unternehmungen des Monarchen benötigt und ist aufgrund seiner internationalen Verbindungen sehr hilfreich für die Außenpolitik.
Mit dem Nationalstaat kommt die Forderung nach „Emanzipation“ der Juden, was die Beseitigung ihres Sonderstatus' innerhalb der ständischen Gesellschaft mit sich bringt, was einigen von ihnen gar nicht gefällt. Die neue Staatsform verlangt grundsätzlich Homogenität seiner Bürger, seines Volkes – und hier wird die Andersartigkeit der Juden als durchaus störend wahrgenommen.
Doch erklärt das allein den mörderischen Antisemitismus (u. a.) der Nationalsozialisten? Ich verstehe Arendt so, dass die Juden bevorzugtes Opfer des Totalitarismus sind, weil sich Reste der alten Vorstellung gehalten haben, sie seien das von Gott auserwählte Volk – vielleicht stimmt es ja doch – und damit werden sie zu einem verunsichernden Fremdkörper in einer Volksgemeinschaft. Die Protokolle von Zion haben insofern eine besondere Relevanz, als diese Dokumente zwar nicht eine echte Weltverschwörung beschreiben, wohl aber als Blaupause, als Plan der Durchführung des tatsächlichen Totalitarismus dienen.